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Da im südafrikanischen Apartheidstaat für ein Treffen mit mehr als zwölf Personen eine spezielle Genehmigung eingeholt werden musste und lediglich religiöse Versammlungen und Begräbnisse hiervon ausgenommen waren, gerieten Beerdigungen im südafrikanischen Kontext zu besonderen politisch-rituellen Orten des Widerstands. Die Gründung des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) in Südafrika in den Jahren 1912/13 resultierte aus dem Zusammenschluss der unabhängigen Kirchen Afrikas, deren Anführer die Bibel nahmen – welche als ein kolonisierender und zivilisierender Text in die lokale Gemeinschaft getreten war –, um diese einer eigenen Lesart zu unterwerfen. Sie befreiten gewissermaßen die Botschaft von dem Boten und versuchten den Widerspruch zwischen dem theologischen Versprechen, gleich vor Gott zu sein, und der Wirklichkeit einer rassistischen Gesellschaft zu lösen.47 Ziel war es, primär aufzuzeigen, dass die Apartheid »unchristlich und unbiblisch« (Tutu zit. in Cheng 1999) war. Während Afrika christianisiert wurde, wurde das Christentum gleichzeitig afrikanisiert. Gott schien sowohl auf der Seite der Kolonisierten als auch auf der Seite der Kolonisatoren zu sein. Die kolonisierten Bevölkerungen lassen sich in der Auseinandersetzung um die Moderne nicht als passive Empfänger/‑innen europäischer und christlicher Normen und Werte verstehen, sondern waren vielmehr aktiv an dem Gestaltungsprozess dieser Normen und Werte beteiligt (vgl. hierzu auch Beiträge zu einer postkolonialen Theologie: Nehring/Tielesch 2013). Die Befreiungstheologie forderte die jahrhundertealte Einteilung der Welt heraus, in welcher der Westen als modern und der ›Rest‹ als antimodern konzeptionalisiert wurden.
— Postkoloniale Theorie by María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan (Page 80 - 82)