Karsten W. quoted Wir von unten by Naomi Ryland
So wie ich, kam auch Natascha im Alter von elf Jahren als Geflüchtete nach Deutschland. Ihre Eltern, beide haben nicht studiert, erhielten sofort eine eigene Wohnung in einem, nun ja, sagen wir, vielfältigen Stadtviertel. Durch zahlreiche lokale Community-Angebote lernten sie schnell viele Menschen kennen und begannen, sich selbst zu engagieren. Natascha knüpfte bald zwei enge Freundschaften.
Die Familie erhielt Unterstützung von einer mehrsprachigen Sozialarbeiterin bei bürokratischen Angelegenheiten. Und als die Sozialarbeiterin merkte, dass die kleine Natascha Schwierigkeiten mit der Umstellung und dem Verlust ihres Zuhauses hatte, bekam sie eine Psychologin zur Seite gestellt.
Natascha besuchte - wie alle Kinder - sofort die örtliche Gemeinschaftsschule. Dort lernte sie in jahrgangsübergreifenden Gruppen, hauptsächlich spielerisch und projektbezogen. Eine Lernbegleiterin unterstützte sie wöchentlich mit einem 9o-minütigen Check-in zu ihren Lerninhalten. Hier konnte sie Schwierigkeiten ansprechen und gemeinsam mit ihrer Lernbegleiterin Erfolge feiern sowie ihre Interessen und Lernpräferenzen erkunden. Später, als sie sich im System wohlfühlte, trafen sie sich nur alle vier Wochen, und Natascha übernahm schnell Verantwortung für ihr eigenes Lernen.
Sie lernte intensiv Deutsch, sowohl im Sprachunterricht als auch durch den Austausch mit den anderen Schulkindern. Diese freuten sich, ihr Deutsch beizubringen, und lernten dabei nicht nur ihre eigene Muttersprache, sondern auch die dahinter liegende Grammatik besser kennen. Zusätzlich lernten sie etwas Russisch, Nataschas Muttersprache. Später würden sie die Möglichkeit haben, diese Sprache als Abifach auszuwählen, neben Türkisch, Arabisch, Englisch und anderen Sprachen.
Obwohl sie keine Noten erhielt, erfuhr Natascha viel Anerkennung und Wertschätzung für ihre Arbeit. Nach acht Jahren entschied sie sich, ihre Abiturprüfungen abzulegen. Bis dahin hatte sie ein starkes Selbstbewusstsein entwickelt, sprach gerne vor Publikum, arbeitete gerne mit anderen zusammen und diskutierte leidenschaftlich gern über politische Themen. Der »KKK«-Ansatz des deutschen Bildungssystems (Kritisches Denken, Kreativität und Kollaboration) prägte ihre Bildungserfahrung.
— Wir von unten by Naomi Ryland, Natalya Nepomnyashcha (Page 209)