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Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne. (Hardcover, Deutsch language, 2024, Luchterhand Literaturverlag)

Gehaltvoll

Besonders beeindruckt haben mich die Traumnovelle und -- mit einigem Abstand -- das Stück über Helgoland, das Stück über die Witwe und die drei Vater-Sohn-Stücke. Also fast alle Stücke. Ich möchte das präzisieren.

Spoiler: ich gehe teilweise auf den Inhalt ein.

Bei der Traumnovelle geht es um einen Moment im Leben einer türkisch-stämmigen Putzfrau Dilek, den Moment, wo sie erspürt, dass sie nicht mit ihrem Mann in die Türkei zurückkehren, sondern in Wien bei einem ihrer Söhne bleiben will. In diesem Moment reinigt sie gerade die Heizung in einer Villa mit einer Reinigungsbürste aus Ziegenhaar. Damit (mit dem Ziegenhaar) verbunden ist eine Erinnerung an das Ziegenhüten in der Kindheit. Dort hatte Dilek eine fördernde Tante, die mit ihr las und ein Ausweg in eine eigenbestimmte Zukunft hätte sein können. Sie beschließt beim Ziegenhüten, ihre Tante zu bitten, sie mitzunehmen. Aber auf dem Nachhauseweg entscheidet sich Dilek, noch ein Bad im Meer zu nehmen. Durch diese Verzögerung schließt sich das Fenster der Möglichkeit und Dilek durchläuft ein eher traditionelles Leben. In der Gegenwart hat sie eine ähnliche Situation: sie fühlt, dass sie nicht zurückkehren will, aber diese Selbstbestimmung ist inzwischen so schwer für sie auszufüllen, dass -- die Zeit stehenbleibt! Die Geschichte endet, dass Dilek in der Villa ein Bad für sich einlässt und in einer Erzählung von Arthur Schnitzler liest (nicht dessen Traumnovelle), wo eine Frau ihren Mann verlässt.

Ich finde diesen Handlungsbogen sehr stark und dabei habe ich noch gar nicht über die Reflektion bzgl. soziale Klassen in dem Stück berichtet.

Die längste Erzählung, die über die Witwe, berichtet einfühlsam übers Altern, Einsamkeit im Alter und endet wiederum hoffnungsvoll.

Die drei Stücke mit dem Thema Memory strotzen vor väterlicher Liebe. Ich glaube, der Autor hat das seinem Kind vorgelesen. Dass es drei Erzählungen sind, hält die einzelnen Stücke kurz.

Die Erzählung über Helgoland ist insofern brilliant, das dort gleichzeitig aus zwei Perspektiven, aus Sicht des Erzählers und des Protagonisten erzählt wird. Superlustig.