Karsten W. wants to read Klasse by Hanno Sauer
Nach dem Interview bei SRF Sternstunden Philosophie ganz oben auf der Leseliste gelandet
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Nach dem Interview bei SRF Sternstunden Philosophie ganz oben auf der Leseliste gelandet
Besonders beeindruckt haben mich die Traumnovelle und -- mit einigem Abstand -- das Stück über Helgoland, das Stück über die Witwe und die drei Vater-Sohn-Stücke. Also fast alle Stücke. Ich möchte das präzisieren.
Spoiler: ich gehe teilweise auf den Inhalt ein.
Bei der Traumnovelle geht es um einen Moment im Leben einer türkisch-stämmigen Putzfrau Dilek, den Moment, wo sie erspürt, dass sie nicht mit ihrem Mann in die Türkei zurückkehren, sondern in Wien bei einem ihrer Söhne bleiben will. In diesem Moment reinigt sie gerade die Heizung in einer Villa mit einer Reinigungsbürste aus Ziegenhaar. Damit (mit dem Ziegenhaar) verbunden ist eine Erinnerung an das Ziegenhüten in der Kindheit. Dort hatte Dilek eine fördernde Tante, die mit ihr las und ein Ausweg in eine eigenbestimmte Zukunft hätte sein können. Sie beschließt beim Ziegenhüten, ihre Tante zu bitten, sie mitzunehmen. Aber auf dem Nachhauseweg entscheidet sich Dilek, noch ein …
Besonders beeindruckt haben mich die Traumnovelle und -- mit einigem Abstand -- das Stück über Helgoland, das Stück über die Witwe und die drei Vater-Sohn-Stücke. Also fast alle Stücke. Ich möchte das präzisieren.
Spoiler: ich gehe teilweise auf den Inhalt ein.
Bei der Traumnovelle geht es um einen Moment im Leben einer türkisch-stämmigen Putzfrau Dilek, den Moment, wo sie erspürt, dass sie nicht mit ihrem Mann in die Türkei zurückkehren, sondern in Wien bei einem ihrer Söhne bleiben will. In diesem Moment reinigt sie gerade die Heizung in einer Villa mit einer Reinigungsbürste aus Ziegenhaar. Damit (mit dem Ziegenhaar) verbunden ist eine Erinnerung an das Ziegenhüten in der Kindheit. Dort hatte Dilek eine fördernde Tante, die mit ihr las und ein Ausweg in eine eigenbestimmte Zukunft hätte sein können. Sie beschließt beim Ziegenhüten, ihre Tante zu bitten, sie mitzunehmen. Aber auf dem Nachhauseweg entscheidet sich Dilek, noch ein Bad im Meer zu nehmen. Durch diese Verzögerung schließt sich das Fenster der Möglichkeit und Dilek durchläuft ein eher traditionelles Leben. In der Gegenwart hat sie eine ähnliche Situation: sie fühlt, dass sie nicht zurückkehren will, aber diese Selbstbestimmung ist inzwischen so schwer für sie auszufüllen, dass -- die Zeit stehenbleibt! Die Geschichte endet, dass Dilek in der Villa ein Bad für sich einlässt und in einer Erzählung von Arthur Schnitzler liest (nicht dessen Traumnovelle), wo eine Frau ihren Mann verlässt.
Ich finde diesen Handlungsbogen sehr stark und dabei habe ich noch gar nicht über die Reflektion bzgl. soziale Klassen in dem Stück berichtet.
Die längste Erzählung, die über die Witwe, berichtet einfühlsam übers Altern, Einsamkeit im Alter und endet wiederum hoffnungsvoll.
Die drei Stücke mit dem Thema Memory strotzen vor väterlicher Liebe. Ich glaube, der Autor hat das seinem Kind vorgelesen. Dass es drei Erzählungen sind, hält die einzelnen Stücke kurz.
Die Erzählung über Helgoland ist insofern brilliant, das dort gleichzeitig aus zwei Perspektiven, aus Sicht des Erzählers und des Protagonisten erzählt wird. Superlustig.
Wie bin ich auf die Erzählung gestoßen? Bei der Lektüre von Ursula Le Guins "Freie Geister" stieß ich wiederholt auf das Wort Anarchismus. Ich fragte mich, was sich da eigentlich genau dahinter verbirgt und erinnerte mich an einen Essay von Noam Chomsky "What is the common good". Dort zitiert Chomsky Rudolf Rocker und führt in Bezug auf Religion aus, dass Anarchisten nicht zwingend Atheisten sein müssen, sondern dass eine anacharchistische Haltung "Widerstand gegen die kirchliche Vormundschaft" bedeute. Als Beispiel für solchen Widerstand nennt Chomsky die Befreiungstheologie-Bewegung und -- die Erzählung "Der Großinquisitor" von Dostojewski. Kannte ich nicht, Bildungslücke, also ab in die Bibliothek.
Worum geht es? Im Sevilla des 16 Jahrhunderts, während der blutigen Zeit der Inquisition, wo wöchentlich Ketzer gefoltert und verbrannt werden, kehrt Christus plötzlich und ohne jede Vorankündigung auf die Erde zurück. Die Menschen auf den Straßen und Marktplätzen erkennen ihn, später er vollbringt Wunder. Auch …
Wie bin ich auf die Erzählung gestoßen? Bei der Lektüre von Ursula Le Guins "Freie Geister" stieß ich wiederholt auf das Wort Anarchismus. Ich fragte mich, was sich da eigentlich genau dahinter verbirgt und erinnerte mich an einen Essay von Noam Chomsky "What is the common good". Dort zitiert Chomsky Rudolf Rocker und führt in Bezug auf Religion aus, dass Anarchisten nicht zwingend Atheisten sein müssen, sondern dass eine anacharchistische Haltung "Widerstand gegen die kirchliche Vormundschaft" bedeute. Als Beispiel für solchen Widerstand nennt Chomsky die Befreiungstheologie-Bewegung und -- die Erzählung "Der Großinquisitor" von Dostojewski. Kannte ich nicht, Bildungslücke, also ab in die Bibliothek.
Worum geht es? Im Sevilla des 16 Jahrhunderts, während der blutigen Zeit der Inquisition, wo wöchentlich Ketzer gefoltert und verbrannt werden, kehrt Christus plötzlich und ohne jede Vorankündigung auf die Erde zurück. Die Menschen auf den Straßen und Marktplätzen erkennen ihn, später er vollbringt Wunder. Auch der Großinquisitor erkennt Christus , reagiert aber, indem er ihn festnehmen und einsperren lässt. Er will ihn am nächsten Tag hinrichten lassen. Der Großinquisitor ist nicht in der Lage, seinen Blutrausch zu erkennen, angesichts der Wiederkunft Christus das Foltern und Verbrennen sein zu lassen. Er versucht stattdessen es zu rechtfertigen.
Seine Argumente sind m.E. mit moderner Psychologie zu widerlegen. Klar helfen Gewohnheiten, Freiheit heißt nicht, jede Handlung neu zu hinterfragen. Daraus folgt aber nicht die Sehnsucht nach Autorität, nach Bevormundung. Klar muss der Mensch genug zu essen haben. Wenn er sich dafür aber versklaven muss, dann läuft was gewaltig schief. Und so weiter.
Dostojewski versucht, mich in ein Gespräch mit einem Massenmörder zu verwickeln. Aber ich steige früh genug aus.
Content warning long description of meditation practice
@unsuspicious Interesting, thanks for sharing. I also practice (just started to put verses — Gathas — on the breath) and was curious when I read your toot.
@unsuspicious how does your practice look like now?
@unsuspicious „Löwen wecken“. Ich meine das Gefühl beim Lesen, nicht den Inhalt…
Den Roman habe ich vor allem deshalb mit in den Urlaub genommen, weil er das "Leitbuch" dieser Bookwyrm-Instanz ist und ich herausfinden wollte, was denn dahinter steckt. Vielen Dank an die Admins für den Hinweis auf das Buch, sonst hätte ich es sicher nicht gefunden!
Als 3. Generation Ost habe ich das Buch zunächst als Reflexion des kalten Kriegs und als Vergleich zwischen Ostblock und westlichem Abendland gelesen. Vor allem haben mich die Probleme auf Anarres angeregt -- wie kommt es zu Machtstrukturen, obwohl Macht gerade nicht gewollt ist, wie kann eine solche Gesellschaft (Hungers)krisen überstehen, wie kann eine solche Gesellschaft mit anderen, aggressiveren Gesellschaft in Kontakt sein?
Neu für mich war in dem Buch der wiederholt auftauchende Begriff des Anarchosyndikalismus. Ich erinnerte mich vage an einen Essay von Noam Chomsky ("What is the Common Good?"), wo dieser über diesen Begriff sprach und dabei Rudolf Rocker zitierte, in …
Den Roman habe ich vor allem deshalb mit in den Urlaub genommen, weil er das "Leitbuch" dieser Bookwyrm-Instanz ist und ich herausfinden wollte, was denn dahinter steckt. Vielen Dank an die Admins für den Hinweis auf das Buch, sonst hätte ich es sicher nicht gefunden!
Als 3. Generation Ost habe ich das Buch zunächst als Reflexion des kalten Kriegs und als Vergleich zwischen Ostblock und westlichem Abendland gelesen. Vor allem haben mich die Probleme auf Anarres angeregt -- wie kommt es zu Machtstrukturen, obwohl Macht gerade nicht gewollt ist, wie kann eine solche Gesellschaft (Hungers)krisen überstehen, wie kann eine solche Gesellschaft mit anderen, aggressiveren Gesellschaft in Kontakt sein?
Neu für mich war in dem Buch der wiederholt auftauchende Begriff des Anarchosyndikalismus. Ich erinnerte mich vage an einen Essay von Noam Chomsky ("What is the Common Good?"), wo dieser über diesen Begriff sprach und dabei Rudolf Rocker zitierte, in etwa "Anarchismus ist kein feststehendes, in sich geschlossenes Gesellschaftssystem, sondern eine bestimmte Richtung in der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit – einerseits die Befreiung des Einzelnen aus dem Zwang von Staat und Gesellschaft, andererseits der enge Zusammenschluss der Menschen auf freiwilliger, unabhängiger Basis." Ich glaube, Ursula Le Guin geht es mehr um diese Richtung der Menschheit statt um den Ost-West-Konflikt.
Und so lassen sich auch die Gedanken des Buches auf andere Bewegungen wie z.B. die Befreiungstheologie in Südamerika übertragen (ein Beispiel das Chomsky nannte).
Beim Lesen des Romans war ich viel im Kopf, im Denken unterwegs. Ähnlich fühlte ich mich beim Lesen von Ayelet Gundar-Goshen.
Das Buch ist nicht idealistisch, sondern widmet sich umfassend der Frage, was alles schiefgehen kann. Das erinnert mich an ein Interview mit Miranda Fricker bei Sternstunden Philosophie, wo sie sagt: "Ich bin geradezu besessen von Dingen, die schiefgehen [...], denn um zu verstehen, wie wir Menschen gut miteinander umgehen können, [...], müssen wir unser Scheitern verstehen. Wir scheitern nämlich nicht zufällig, sondern weil das Scheitern bereits in der Struktur unserer Praxis angelegt ist."
»… Dass das individuelle Bewusstsein vollkommen vom sozialen Bewusstsein beherrscht wird, anstatt dass wir nach einem Ausgleich streben. Wir kooperieren nicht - sondern gehorchen. Wir fürchten uns davor, ausgestoßen zu werden, faul, dysfunktional, Egoisierer genannt zu werden. Wir haben mehr Angst vor der Meinung unseres Nächsten als Achtung für die eigene Entscheidungsfreiheit.
— Freie Geister by Ursula K. Le Guin (Hainish Universum-Reihe, #5) (Page 362)
Soziale Macht, vgl. Miranda Fricker
Wenn genug da war, selbst nur knapp genug, fiel das Teilen leicht. Aber was passierte, wenn es nicht genug gab? Dann kam Macht ins Spiel; Stärke, die auf Recht pochte; Macht und ihr Werkzeug, die Gewalt, und ihr treuester Verbündeter, der abgewandte Blick.
— Freie Geister by Ursula K. Le Guin (Hainish Universum-Reihe, #5) (Page 283)
Und dann gibt es noch diejenigen, die lieber singen und ttanzen statt vorzusorgen. Wie die Grille und die Ameise.
Sabul nutzt dich aus, wo er kann, und wo er es nicht kann, verhindert er, dass du veröffentlichst, dass du unterrichtest, ja sogar, dass du arbeiten darfst. Stimmt's? Das heißt mit anderen Worten, er hat Macht über dich. Woher bekommt er sie? Nicht durch amtliche Befugnis, die gibt es nicht. Nicht durch überragende Intelligenz, die hat er nicht. Er bezieht sie aus der angeborenen Feigheit der durchschnittlich Denkenden. Öffentliche Meinung! Das ist die Machtstruktur, an der er teilhat und die er zu nutzen versteht. Die uneingestandene, unzulässige Regierung, die über die odonische Gesellschaft herrscht, indem sie den Verstand des Einzelnen ausschaltet.
— Freie Geister by Ursula K. Le Guin (Hainish Universum-Reihe, #5) (Page 184)
Miranda Fricker hat sich den Begriff der „sozialen Macht“ überlegt, der die Situation Sabul-Shevek gut beschreibt.
In der Feudalzeit hatte die Aristokratie ihre Söhne auf die Universität geschickt und die Institutionen dadurch geadelt. Heutzutage war es umgekehrt: Die Universität adelte den Menschen. Sie berichteten Shevek voll Stolz, dass der Wettbewerb um Stipendien der Universität Jeu Eun Jahr um Jahr schärfer werde, und meinten damit den demokratischen Grundcharakter der Institution zu beweisen. Er entgegnete: »Ihr baut einen weiteren Riegel vor die Tür und nennt es Demokratie.«
— Freie Geister by Ursula K. Le Guin (Hainish Universum-Reihe, #5) (Page 144)
Nicht dass ich mir die Feudalzeit zurück wünsche. Aber dass die Uni ihre Bedeutung von den Studis bekommt, finde ich eine schöne Idee.
»Exzess ist Exkrement«, hatte Odo in der Analogie geschrieben. »Exkremente, die im Körper verbleiben, sind Gift.«
— Freie Geister by Ursula K. Le Guin (Hainish Universum-Reihe, #5) (Page 117)
Suffizienz
"» … die Besiedlung von Anarres liegt anderthalb Jahrhunderte zurück; seitdem das letzte Schiff die letzten Siedler brachte - herrscht Unwissenheit. Wir ignorieren Sie; Sie ignorieren uns. Sie sind unsere Vergangenheit. Wir sind vielleicht Ihre Zukunft. Ich möchte lernen, statt zu ignorieren. Das ist der Grund meines Kommens. Wir müssen einander kennenlernen. Wir sind keine primitiven Menschen. Unsere Moral ist nicht mehr im Stammesdenken verhaftet, das kann sie nicht sein. Ignoranz in solcher Form ist ein Unrecht, das neues Unrecht gebiert. Deswegen komme ich, um zu lernen.«
— Freie Geister by Ursula K. Le Guin (Hainish Universum-Reihe, #5) (Page 87)
Durchlässigkeit, Offenheit
» … Es ware gut zu wissen, dass wir die ganze Wahrheit über Urras wüssten.« »Was meinst du denn, wer uns belügt?«, rief Shevek. Bedap begegnete ruhig seinem Blick. »Ja, wer, Bruder? Wer außer wir selbst?« Der Schwesternplanet schien auf sie hinunter, klar und hell, ein wunderschönes Beispiel für die Unwahrscheinlichkeit des Faktischen.
— Freie Geister by Ursula K. Le Guin (Hainish Universum-Reihe, #5) (Page 55)
Wahrscheinlich ist es ein guter Standpunkt, immer anzunehmen, nicht die „ganze“ Wahrheit zu wissen. Ungerecht ist es, wenn Teile der wissbaren Wahrheit vorsätzlich vorenthalten werden.
Die Autorin ist 1970 geboren und damit etwa meine Generation.
In „Zuhälter“ reagiert die Ich-Erzählerin auf einen Heiratsantrag (zu) lange nicht. Mehr als ein Jahr, ohne dass klar wird, warum. Aufgefordert, den Ring zurückzugeben, trifft sie auf ihre Nachfolgerin und ihre Gefühle zum Mann. Etwas später besucht sie ihn. Was für eine Situation!
In „Aqua Alta“ geht es um ein Treffen mit den Eltern, das Verhältnis zwischen Tochter und Eltern und Unterschiede in der Haltung zum Leben in den beiden Generationen.
Ich hatte ein paar „Ja, genau“ Momente und manchmal Schamgefühle beim Lesen. Gut gefällt mir, dass nicht bewertet wird.
Bonuspunkte, wenn man in jeder Erzählung das Gespenst findet.
Die Autorin ist 1970 geboren und damit etwa meine Generation.
In „Zuhälter“ reagiert die Ich-Erzählerin auf einen Heiratsantrag (zu) lange nicht. Mehr als ein Jahr, ohne dass klar wird, warum. Aufgefordert, den Ring zurückzugeben, trifft sie auf ihre Nachfolgerin und ihre Gefühle zum Mann. Etwas später besucht sie ihn. Was für eine Situation!
In „Aqua Alta“ geht es um ein Treffen mit den Eltern, das Verhältnis zwischen Tochter und Eltern und Unterschiede in der Haltung zum Leben in den beiden Generationen.
Ich hatte ein paar „Ja, genau“ Momente und manchmal Schamgefühle beim Lesen. Gut gefällt mir, dass nicht bewertet wird.
Bonuspunkte, wenn man in jeder Erzählung das Gespenst findet.